Der Hals der Giraffe
von Judith Schalansky (Regie: Hannes Hametner)
Dass Theater sogar eine Macht ist (und äußerst vieldeutige Bezüge zum Thema Macht hat) – auch diese Bedeutung steckt im aktuellen Spielzeitmotto „Macht Theater!“ des Theaters Vorpommern. In diesem Sinne feierte das Schauspiel im Greifswalder Rubenowsaal am Donnerstag Abend Premiere mit zwei Monodramen: Die ersten beiden Schauspielersolos einer Reihe von insgesamt zehn Solostücken an fünf Doppelabenden, die nach den Premieren weiter im Spielplan sind und zum Saisonschluss nochmal als kompaktes zwölfstündiges Festival laufen.
Den Auftakt der Reihe inszenierte Regisseur Hannes Hametner mit zwei Geschichten über Leben, Anpassung, menschliche Deformation und Schuld in Diktaturen und Zeitenwenden. Zuerst spielt Chiaretta Schörnig in „Der Hals der Giraffe“ nach dem 2011 erschienenen hochgelobten Bildungsroman der gebürtigen Greifswalderin Judith Schalansky eine aus der DDR stammende, nach der deutschen Wiedervereinigung in Verbitterung und sozialdarwinistischen Denkschablonen erstarrte Biologielehrerin in einer Kleinstadt im vorpommerschen Hinterland. Nach der Pause die Uraufführung „Der Biedermann“ von Hametner über den Medizinprofessor Hermann Voss (1894-1987), der in der DDR in Halle, Jena und nach seiner Emeritierung 1962 in Greifswald arbeitete. Früher in Zeiten des NS-Regimes allerdings hatte er als NSDAP-Mitglied und Dekan an der Reichsuniversität Posen seit 1941 eine Medizinische Fakultät aufgebaut, in der Menschenversuche und die Verbrennung der durch die SS angelieferten Leichen von Polen üblich waren.
Erschütternd sind beide Psychogramme, zumal ihre direkte Darstellung auf der Bühne Differenzierung erzwingt, um nicht bloße Monster vorzuführen. Chiaretta Schörnig zeigt ihre Biologielehrerin im Dauerfrust und Berufsüberdruss. Witzige Sentenzen über Schüler oder jüngere Kolleginnen, im Einzelfall durchaus verständlich, erweisen sich als tückisch und offenbaren im Zusammenklang ihrer komprimierten Negativität die Gefährlichkeit einer menschenverachtenden Weltsicht.
Auf einem Bücherregal stehend, liegend, turnend wie auf einem Gerüst geistiger Macht spricht diese Lehrerin Inge Lohmark Schüler an, die da als Puppen im Regal sitzen und liegen, parodiert den Direktor aus dem Westen, der durch einen Arm verkörpert wird. Aus der Biologie verallgemeinert und predigt sie das biologistische Weltbild vom Fressen und Gefressenwerden, bekanntlich ein Missverständnis Darwins; aus der Beweiskraft der exakten Wissenschaft das Bekenntnis zu Frontalunterricht und gar Diktatur. Dennoch bleibt die Rolle menschlich, gezeigt wird eine Frau, die unter sich selbst leidet und entsetzlich bestraft ist damit, so zu sein, wie sie ist: geistig verknöchert, einsam, mit tiefen Ängsten vor der eigenen dunklen Seite.
Anders bei Anatom Professor Voss, dem Regisseur Hametner im Spiel von Lutz Jesse wenig Raum lässt, menschlich zu wirken. Dieser Voss, über 80, packt gerade seine Sachen, um die DDR in Richtung Bundesrepublik zu verlassen (und am Ende die Bühne der Geschichte). Seine Tagebuchausschnitte mit schlimmen Sätzen (Wenn man doch nur die ganze polnische Gesellschaft so veraschen könnte!) hört Voss vom Tonband, kritzelt dazu etwas auf Papier und gibt am Ende die Kritzelei als Lebensmaxime eines notorischen Untertanen zum besten (aus dem „Ich muss“ ein „Ich will“ machen). Die ganze Person in steifer Haltung, Haare streng gescheitelt, unerschütterlich würdige Haltung und ein Gläschen Rotwein zur Holocaust-Erinnerung, ein Biedermann, der in seinen Tagebuchaufzeichnungen auch die eigene Jämmerlichkeit ausgiebig mit dokumentiert hat.
Hannah Arendts „Banalität des Bösen“ fällt einem da ein. Es ist ein Theater der leiseren Töne, im zweiten Stück ganz im Dienst des Dokumentarisch-Faktischen – das man wissen und also sehen sollte.